50 JAHRE RENAULT 4 – JUBILÄUM EINER LEGENDE

12. Mai 2011
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  • Erste Kombi-Limousine mit großer Heckklappe und variablem Innenraum
  • In 31 Jahren über acht Millionen Exemplare gebaut
  • Radikal neues Konzept mit Plattformstrategie
Eine Automobil-Legende feiert 2011 ihren 50. Geburtstag: der Renault 4. Von der weltweit ersten Kombi-Limousine mit vier Türen, großer Heckklappe und variablem Innenraum rollten von 1961 bis 1992 über acht Millionen Exemplare vom Band. Das radikal neue Konzept wurde mit seiner Plattformstrategie Vorbild für viele industrielle Nachahmer.

Weltpremiere auf der IAA in Frankfurt 1961
Frankfurt, 21. September 1961. Die Autowelt pilgert zur Internationalen Automobil-Ausstellung an den Main. Ausgerechnet hier, wo man Kompaktklasse mit Käfer übersetzt, schiebt Renault einen absolut ungewöhnlichen Kleinwagen ins Rampenlicht. Der schlicht „R4“ getaufte Neuling ist revolutionär anders als seine Zeitgenossen und diesen in vielerlei Hinsicht weit voraus. Der R4 ist die weltweit erste Kombi-Limousine mit vier Türen, großer Heckklappe, geräumigem Gepäckabteil und variablem Innenraum. Vor 50 Jahren setzt er mit diesem Konzept Maßstäbe und kreiert einen Industriestandard, der in den Grundzügen bis zum heutigen Tag Bestand hat. Der R4 ist auch der erste Renault Pkw mit Frontantrieb. Damit etabliert er die heute dominierende Antriebsart aller Pkw-Modelle der Marke.

Revolutionäres Konzept begeistert auf lange Sicht
Das Konzept erweist sich als so genial, dass über die Jahre kaum Modifikationen erforderlich sind: Fast unverändert läuft der R4 genau 31 Jahre lang vom Band. Exakt 8.135.424 Exemplare festigen den Ruf eines unverwüstlichen Bestsellers. Er wird in 28 Ländern gebaut und in mehr als 100 Staaten verkauft. Als meistverkauftes französisches Exportauto dient der R4 auch als wesentlicher Baustein für die beginnende Globalisierung von Renault. Studenten und Professoren lieben ihn gleichermaßen; er ist Möbelwagen und Liebeslaube, Familienkutsche und Nutzfahrzeug. Abenteurer gehen mit ihm auf Weltreise – und kommen nach spektakulären Erlebnissen wohlbehalten wieder zu Hause an. Selbst im Rallyesport, nicht unbedingt als Domäne für den eher schwachbrüstigen Vierzylinder zu erwarten, schlägt sich der R4 wacker. Sein Debüt im Motorsport feiert er bei der Rallye Monte Carlo 1962. Sogar den legendären Wüsten-Marathon Paris–Dakar absolviert der Fünftürer klaglos – und wird Zweiter des Gesamtklassements. Der französische Komiker Jacques Tati setzt ihm im Kinoerfolg „Trafic“ ein filmisches Denkmal und zeigt einen praktischen Zusatznutzen: Auf dem heruntergeklappten Kühlergrill lässt sich im Stau eine warme Mahlzeit brutzeln.

Erfolgreiche Provokation auf vier Rädern
In die beschauliche, höchst konservative Welt von 1961 platzt der R4 wie eine Provokation auf vier Rädern. Pierre Dreyfus, damals Vorstandsvorsitzender der Renault S.A., hat 1956 die zündende Idee, als er in der Zeitung einen Bericht über die demografische Entwicklung in Frankreich liest. Ihm ist sofort klar, dass ein Auto wie der R4 viele Menschen ansprechen würde und die Bedürfnisse unterschiedlicher Personen erfüllen könnte, von der jungen Familie bis zum Rentner-Ehepaar. Er fordert ein Auto, das wie eine „Bluejeans“ Klassengrenzen überschreitet und sich unkompliziert für jede Gelegenheit eignet.

Dreyfus’ Auftrag an seine Entwicklungsingenieure ist radikal: Er stellt grundsätzlich alle bislang üblichen Konstruktionsprinzipien infrage – das Vorgängermodell 4CV hatte Heckmotor und Hinterradantrieb – und löst damit intern heftigsten Widerstand aus. Doch die Vorgabe, mit völlig freiem Kopf und einem leeren Blatt Papier das Auto quasi neu zu erfinden, erweist sich als einzig richtiger Weg. Der R4 ist das erste Volumenmodell, das auf einem Baukastensystem mit Plattformstrategie basiert. Die Karosserie wird mit dem Rahmen verschraubt, deshalb lassen sich schnell und kostengünstig verschiedene Versionen realisieren: Neben der fünftürigen Limousine gibt es den nicht minder erfolgreichen Kastenwagen Fourgonnette, der nur einen Monat später vorgestellt und ab 1962 produziert wird. 1964 taucht erstmals der „Sinpar 4x4“ mit Allradantrieb auf, zum gleichen Zeitpunkt gibt es auch einen praktischen Pick-up. 1965 wird der „R4“ offiziell in „Renault 4“ umgetauft. 1969 debütiert der „Plein Air“, ein Cabriolet ohne Türen im Stil der damals modischen Dune Buggies, 1970 folgt das Freizeitmobil „Rodeo“ mit eigenständig gestalteter Kunststoff-Karosserie.

Mit 1,55 Meter Höhe fast schon ein Kompakt-Van
Bei kompakter Außenlänge – mit exakt 3.661 Millimetern ist der R4 rund zwei Handbreit kürzer als ein Renault Clio – bietet das Standardmodell Platz für fünf Erwachsene sowie deren Reisegepäck. Das Kofferraumvolumen von mindestens 255 bis maximal 950 Litern kann sich auch heute noch sehen lassen. Vier Türen sind serienmäßig, die große Heckklappe ebenfalls. Die üppige Gesamthöhe von 1,55 Metern (nur einige Zentimeter weniger als beim Renault Scénic) ermöglicht eine aufrechte, bequeme Sitzposition und schafft so mehr Bewegungsfreiheit und Stauraum. Dieser Trick des R4, ein großzügiges Raumangebot auf wenig Verkehrsfläche zu realisieren, hat Schule gemacht und wird bis heute von vielen Wettbewerbern fleißig kopiert.

Erstes Serienauto mit umklappbarer Rückbank
Ein völlig ebener Wagenboden und der Verzicht auf den Mitteltunnel erlauben darüber hinaus vielfältige Innenraum-Variationen. Zudem ist der R4 das erste Serienauto, bei dem sich die Rückbank komplett zusammenfalten und nach vorn klappen lässt. Das Resultat ist ein gut nutzbarer, quaderförmiger Laderaum mit bis zu 950 Liter Volumen. Zwischen den Vordersitzen stört weder ein Schalt- noch ein Handbremshebel, so dass Mitfahrer leicht von links nach rechts durchsteigen können – nicht nur in engen Innenstadt-Parkbuchten eine höchst praktische Angelegenheit.

Möglich macht dies ein weiterer genialer Kniff: die vom Volksmund liebevoll „Revolverschaltung“ getaufte Schiebestock-Betätigung des Getriebes. Im R4 lassen sich schon vor 50 Jahren die erstmals vollsynchronisierten drei Gänge bequem wechseln – ohne die Hand weit vom Lenkrad entfernen zu müssen. Das erhöht ganz nebenbei auch die Verkehrssicherheit.

Front-Mittelmotor-Prinzip und Einzelradaufhängungen hinten
Auch die Fahreigenschaften halten noch heute einem Vergleich mit modernen Modellen jederzeit stand. Dabei hilft dem R4 ein genialer Kniff: Sein kompakter Vierzylinder-Reihenmotor wurde weit in Richtung Wagenmitte nach hinten verschoben montiert. Es handelt sich um ein Front-Mittelmotor-Prinzip. Die Vorteile lassen sich im Wortsinn „erfahren“: Der günstige Schwerpunkt und die neutrale Gewichtsverteilung ermöglichen ein narrensicheres und gleichzeitig sehr sportliches Fahrverhalten.

Einzeln aufgehängte Hinterräder – bei kompakten Fronttrieblern selbst heutzutage noch längst nicht selbstverständlich – verbessern zudem den Fahrkomfort und die Spurstabilität. Der R4 bleibt auch in zügig angegangenen Kurven lange neutral und überrascht seinen Piloten nie mit unangenehmen Fahrreaktionen. 1961 ist das sensationell – nicht nur im direkten Vergleich mit den „Heckschleudern“ vom Kaliber eines VW Käfer, Simca 1000 oder Renault Dauphine, die damals den Kompaktwagenmarkt dominieren. Der R4 ist außerdem sehr handlich und lässt sich ausgesprochen präzise dirigieren, ein Verdienst der wartungsfreien Zahnstangenlenkung.

Überragende Zuverlässigkeit dank härtester Tests
Respekt verschafft sich der ungewöhnliche Franzose auch mit seiner überragenden Zuverlässigkeit. Sie ist kein Zufall, sondern resultiert aus dem umfangreichsten und härtesten Testprogramm, das jemals stattgefunden hat. Rund 2,9 Millionen Testkilometer unter anspruchsvollsten Bedingungen legen die Versuchsfahrer zurück – auch heute noch ein stolzer Wert. Die strapaziösen Touren führen den R4 in die kältesten Zonen Schwedens, auf die kurvenreichen Buckelpisten Sardiniens, quer durch Wüstengebiete in Afrika und über menschenleere Gegenden in den USA. Die Fahrer leben förmlich im R4 und nennen ihr Gefährt irgendwann liebevoll „Marie-Chantal“. 60 Autos aus der so genannten Nullserie gehen zusätzlich in weitere Härtetests, auch in die Hände ausgewählter Kunden. Auch dieses Vorgehen ist Ende der 1950er-, Anfang der 1960er-Jahre noch ungewöhnlich, heutzutage aber ein übliches Verfahren in der gesamten Autobranche.

Lange Wartungsintervalle, geringe Betriebskosten
Aus den Erfahrungen der umfangreichen Testreihen resultieren wesentliche Verbesserungen: Der Vierzylinder bekommt erstmals ein geschlossenes und damit wartungsfreies Kühlsystem. Druck- und Temperaturausgleich erfolgen mithilfe eines separaten Behälters und frostsicherer Dauerbefüllung. Das zuverlässige System wird später für alle Renault Modelle übernommen. Die bislang üblichen Schmiernippel entfallen ebenfalls, der R4 braucht keinen Abschmierservice mehr. Die Wartungsintervalle können deshalb kundenfreundlich verdoppelt werden. Der Renault 4 muss ab 1988 sogar nur alle drei Jahre beziehungsweise alle 50.000 Kilometer zur großen Inspektion.

Verweigerung des Leistungsprinzips für geringen Verbrauch
Bescheiden bleibt der R4 auch in Sachen Motorleistung. Die Spanne reicht je nach Hubraum (747 cm3 bis 1.108 cm3) von 23 bis 34 PS (Angaben in kW sind in den 1960er-Jahren noch nicht gebräuchlich). Das reicht auch für kommode Autobahnfahrten, worauf Renault Chef Dreyfus großen Wert legt. Gut 120 km/h Spitzentempo sind mit dem stärksten Triebwerk möglich. Gleichzeitig überzeugt der Vierzylinder mit hohem Drehmoment bei niedrigen Drehzahlen (maximal 75 Nm bei nur 2.500 U/min) und geringem Kraftstoffverbrauch – eine bis heute absolut zeitgemäße Auslegung. In den beiden Ölkrisen 1971 und 1973 schlägt die große Stunde des R4. Mit geringem Durchschnittsverbrauch (5,4 bis 6,5 Liter Benzin pro 100 Kilometer nach damaliger Norm) sowie günstigen Versicherungseinstufungen bietet der R4 eine der preiswertesten Möglichkeiten, ein vollwertiges Auto zu fahren.

Heute ist die Renault 4-Story noch lange nicht zu Ende. Auch zwei Jahrzehnte später lebt der fortschrittliche Franzose fröhlich weiter (235 mal in Österreich), jetzt oft aufwändig restauriert und sogar mit einem geregelten Katalysator für optimale Abgasreinigung bestückt. Er macht auf Oldtimer-Fernfahrten ebenso eine gute Figur wie bei der strapaziösen 4L Trophy von Paris nach Marrakesch. In jedem Fall erweist er sich als alltagstauglich, leicht zu reparieren und günstig zu unterhalten – wie vor 50 Jahren.
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